Finnland feiert jetzt im Dezember seine 100-jährige Unabhängigkeit von Russland. In Karelien, an der russischen Grenze, feiert man das etwas stiller. Meistens zumindest. Ein Besuch am Rande Europas.
Annis Stimme ist kräftig und rau. Auf ihrem Schoß liegt eine Kantele, sie zupft die Saiten des Holzinstruments mit ihren runden Fingern und singt mit lauter Stimme finnische Volksweisen mit anmutigen Melodien, die von wundersamen Wesen und Tieren handeln. Nur das Wort Bär komme nie vor, erklärt Anni später. Zu mächtig, zu furchteinflößend sei dies.
Anni betreibt ein kleines Gästehaus mitten im Wald, im Osten des Landes. Bis zur Hauptstadt Helsinki sind es etwa 500 Kilometer. Hier, in der Region Karelien, leben mehr Wölfe und Bären als Menschen. „Nur wenig weiter beginnt Russland, der große dunkle Nachbar im Osten,“ erklärt Anna Jetsu, vom Tourismusamt.
Hier gibt es mehr Bären und Wölfe als Menschen
Bis 1917 war Finnland Teil des russischen Reiches, davor gehört es zu Schweden. In diesem Jahr feiert Finnland 100 Jahre Unabhängigkeit. Wobei das Feiern weniger mit lauten Festumzügen und Partyrummel zu tun hat. Finnland feiert stiller. Als würde es noch ein wenig nach sich selbst suchen. „Uns beschäftigt die Frage, wer wir sind“, erklärt Jetsu. „Wir sind nicht schwedisch, wir sind nicht russisch, wir sind einfach finnisch“, sagt sie. Also besinnen sich die Menschen auf das, wovon es im Land besonders viel gibt: Die Weite der Wälder, die Ruhe in der Natur, kulinarische Köstlichkeiten aus allem, was Wald und Seen so hergeben und die langen, dunklen Winter, die man ohne Musik und Sauna kaum überstehen würde.
„Uns beschäftigt die Frage, wer wir sind“
Wer nicht in der Hauptstadt Helsinki wohnt, lebt wie Anni in kleinen Städtchen, irgendwo im Wald. Finnland ist fast so groß wie Deutschland, hat aber nur 5,5 Millionen Einwohner. Weil „typisch finnisch“ vor allem Natur bedeutet, wurden 27 Nationallandschaften auserwählt. Eine davon ist der Koli Nationalpark. Hier, so heißt es, liegt der Ursprung der finnischen Identität. Zu den beiden Spitzen des gerade einmal 350 Meter hohen Koli-Berges führen kleine Wege über runde, moosige Felsen, Heidelbeersträucher säumen den Weg. Oben, auf der westliche Spitze des Berges, erstreckt sich die Weite Finnlands vor dem Blick des Besuchers. „Von hier schaut man ins Mutterland“, erklärt Jetsu. „Von der östlichen Spitze hingegen, kuckt man nach Russland hinüber, ins Feindesland“.
„Typisch finnisch“ ist vor allem die Natur
Das Verhältnis der Menschen im Grenzgebiet, wo finnische auf russische Wälder treffen, ist friedlich, aber vorsichtig. „Man weiß nie, was passiert“, sagt Jetsu, die hier aufgewachsen ist. Alle paar Wochen fährt sie mit dem Auto über die Grenze zum Tanken. Fast ein Euro Unterschied pro Liter, dafür lohne es, die Kontrollen, die Stempelbürokratie und die Unberechenbarkeit der russischen Grenzbeamten auf sich zu nehmen, sagt sie. Ein bisschen mulmig ist ihr trotzdem: „Es kann immer sein, dass man plötzlich nicht mehr zurückgelassen wird.“ Spätestens zum Abendessen ist sie zuhause, hat sie mit ihrem Mann vereinbart.
Auf den Teller kommt, was die Natur hergibt
Dann kommt auf den Tisch, was Garten, Wald und Flüsse hergeben: Pilze, Beeren, Fisch, Kräuter und Kohl, Gurken und Fleisch. Die Seen und Flüsse sind reich an Hering und Lachs, die Wälder im Spätsommer voller Beeren. Genehmigungen braucht man nicht, jeder darf ernten, fischen und sammeln. Vieles wird in majonäseartige Saucen getaucht oder im Ofen in Öl geschmort. Dazu werden Karjalanpiirakka dazu serviert, karelische Piroggen. Kleine, herzhafte Gebäckstücke, gefüllt mit Reis oder Kartoffeln, darauf ein Klacks kühler Eierbutter. Man schmeckt noch den Einfluss der russischen Küche.
Viele Menschen haben mehrere Berufe, um hier draußen zu überleben
Im Winter fallen die Temperaturen mitunter bis auf minus 40 Grad, die Sonne schafft es kaum über den Horizont. Weil es in der Weite des Landes kaum Industrie gibt, haben die meisten Menschen mehrere Berufe. Wie Minna Murtonen. Sie lebt in Nurmes, einem Städtchen mit rund 7800 Einwohnern. Im Sommer betreibt sie ein kleines Gasthaus und bietet Kräutertouren an. Wenn nicht genug Gäste kommen, hilft sie in anderen Gasthäusern aus oder gibt Stadtführungen. In den Wintermonaten veranstaltet sie mehrtägige Skilanglauftouren. Etwa einen Meter dick liegt der Schnee dann und erhellt funkelnd die langen Nächte. Minna führt ihre Langläufer von Gasthaus zu Gasthaus. „Auf diese Weise haben alle Häuser in der Umgebung etwas davon,“ erklärt sie, „Ohne die gegenseitige Hilfe und Unterstützung könnte man hier nicht überleben.“ Nachbarschaftshilfe auf Finnisch. Obwohl das nächste Haus oft viele Kilometer entfernt liegt.
Die Stille und Weite der Natur passt zu den wortkargen Menschen
Miteinander gesprochen wird aber ohnehin nicht viel. „Wir Finnen verlieren lieber zu wenige, als zu viele Worte“, erklärt Anna Jetsu. Irgendwie passt das Schweigen der Menschen zu der Weite des Landes, zu den schier endlosen Wäldern, zur prächtigen Natur, in der im Sommer blaue Lupinen leuchten, als hätten Landschaftsgärtner sie in die Wiesen gesetzt. Zum knallfrischen Grün der Blätter, zur artenreichen Tierwelt, zu den unzähligen glitzernden Seen. Doch der kurze, helle Sommer, so scheint es, schafft es kaum, die Gemüter der Menschen vollständig aufzutauen. Dem wird ein buntes Kulturprogramm entgegengesetzt.
Es braucht eine Weile, bis der Finne auftaut
Vor allem im Jahr der Unabhängigkeit gibt es im ganzen Land Kultur- und Musikveranstaltungen. Im kleinen, karelischen Städtchen Lieksa eröffnet im Sommer die Brass Musikwoche, es kommen Ensembles aus der ganzen Welt. Die Halle ist voll, das Publikum bunt gemischt. Es ist ohrenbetäubend leise, bevor die Blechbläser zu spielen beginnen. Sie grooven mit ihren Instrumenten den ernsten Mienen entgegen. Es braucht ein paar Lieder, bis die ersten Füße im Takt zu wippen beginnen, die Gesichter sich erhellen. Man ahnt, dass im Publikum mehr Energie und Freude wohnen, als auf den ersten Blick erkennbar.
Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Heavy- und Black Metal Bands als hier
Die finnische Seele ist eben tiefgründig, wie die Seen des Landes. Daher feiert man hier zurückhaltender. Oder so richtig laut. In kaum einem Land gibt es so viele Heavy Metal-Bands wie hier. Düster donnern die gitarrenlastigen Formationen mit ihren röhrenden Sprechgesängen und dröhnenden Bässen der Stille der entgegen. Anna Jetsu hat eine Erklärung, warum Heavy Metal hier so erfolgreich ist: „Wenn alles in einem drin dunkel und trist ist, dann braucht es eben etwas, das noch düsterer ist“, erklärt sie. Dennoch bedarf es einer ordentlichen Portion Humor, wenn ein Land jährlich die Luftgitarren-Weltmeisterschaft veranstaltet, ein heiteres Spektakel mitten im Wald.
Kein Haus, keine Wohnung ohne Sauna
Und abends geht es in die Sauna. Jedes Haus hat eine, selbst in die kleinste Etagenwohnung wird eine reingezimmert. Sogar am Riesenrad im Hafen von Helsinki hängen zwei Sauna-Gondeln. Dreimal pro Woche saunieren die Finnen durchschnittlich, auch im Sommer, traditionell nach Geschlecht getrennt. Erst die Frauen, dann die Männer. Die Wärme und das Zusammensein mit Freunden hilft, die langen Winter zu überstehen.
Am 6. Dezember, dem Tag der Unabhängigkeit, werden viele Saunen im ganzen Land angefeuert. Finnen können eben auch ziemlich heiße Feste feiern.
Fotos: Hejsson, Mira Kemppainen, Maria Mekht, Alain Wong, Adrian, Jakob Owens, Luuk Wouters, Michael-Henry, Nick Sarro